In den letzten drei Jahren war die Linke nicht nur in Österreich und Deutschland mit zwei Krisen konfrontiert, die sie auf den Prüfstand ihrer Integrität, Redlichkeit und Intellektualität gestellt hatte. Ich spreche von SARS CoV 2, kurz Corona, sowie dem Krieg in der Ukraine und den mit beidem verbundenen Angriffen auf gesellschaftliche Freiheiten, den mit beidem verbundenen Regulierungen der Gesellschaft. Sei es in ihrer Ausrichtung auf eine Politik westlicher so genannter Werte, deren Legitimierung und Promulgation durch eine gleichgeschaltete oder sich in vorauseilendem Gehorsam gleichschaltende Presse, sei es durch eine allseits willige und ebenso vorauseilende Propagierung eben dieser Werte in der Öffentlichkeit und vor allem durch sie und ein Einfordern der Verteidigung dieser Werte auch und gerade durch deren Einschränkung – wie auch immer: was als Linke verstanden werden konnte, hat dieses üble Spiel mitbetrieben und sich dadurch nach dem August 1914 etwa 100 Jahre später noch einmal als staatstragend und staatsbürgerlich verantwortungsvoll definiert. Selbst die politische Tendenz, der ich mich einst zugehörig gefühlt habe, die Wertabspaltungskritik rund um ihre Organe „krisis“ und „Exit!“, hat sich hier eingereiht und ist somit für einen Diskurs der Überschreitung gesellschaftlicher Verhältnisse obsolet geworden.
Im Folgenden soll, was an dieser Strömung bedenkenswert und nach wie vor diskutabel ist, wenigstens teilweise beleuchtet werden, auch in ihrem Verhältnis zu anderen linken traditionalistischen Strömungen, das sich heute nicht mehr durch besondere Originalität des Denkens oder durch diskursive Schärfe auszeichnet, eher durch Einordnung in den politisch-gesellschaftlichen Mainstream. Der Wertabspaltungskritik, einer spezifischen Gesellschaftskritik, die sich aus der marxistischen Beschreibung der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft weiterentwickelt hat, wurde oft auf Grund eines ihrer zentralen Bestandteile, der Postulierung einer inneren Schranke für die Wertverwertung und daraus folgend eines unumkehrbaren krisenhaften Prozesses hin zum Zusammenbruch, ein gewisser Attentismus vorgeworfen, der sich auf eine theoretische Beschreibung der gesellschaftlichen Vorgänge zurückziehe und praktische Intervention nicht nur ablehne, sondern sogar für sinnlos erkläre. Im Folgenden soll auf dieses Problemfeld thesenhaft eingegangen werden.
Der Vorwurf des Attentismus ist in der politischen Auseinandersetzung um den Systembruch, um das Erreichen einer nicht kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht neu. Schon Rosa Luxemburg sah sich damit konfrontiert, obwohl ihre kämpferische Haltung zur Unterstützung proletarischer Revolutionen im Gegenteil keine deterministische Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus beinhaltete. Ihre Haltung war klar: Noch bevor der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zu Grunde geht, wird das internationale Proletariat dem Spuk ein Ende bereitet haben. So ehrenwert und sympathisch diese Haltung auch ist, muss dennoch in der Rückschau die Frage beantwortet werden, warum dem Proletariat dieser Sieg nicht gelungen ist.
Diese Frage lässt sich ebenso aus der historischen kritischen Rückschau beantworten wie auch aus den Auseinandersetzungen selbst, die Rosa Luxemburg mit der deutschen Sozialdemokratie führen musste. Während ihr einerseits linksradikaler revolutionärer Aktivismus vorgeworfen wurde, wurde andererseits ihre Zusammenbruchstheorie dahingehend kritisiert, dass sie die politische Notwendigkeit einer Umwälzung ebenso negiere wie die „zivilisatorischen Notwendigkeiten“ von Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus, denen sie bloß auf moralischer Ebene begegne. Was an dieser Kritik der Sozialdemokratie an ihrer revolutionären Genossin verblüfft, ist die Doppeldeutigkeit dieser Politik: Zum einen stellt sich die Partei mit ihrem historischen Materialismus und seinem Etappenmodell selbst auf den Boden des Attentismus, zum anderen deklariert sich die Sozialdemokratie offen als Modernisierungspartei, die erst mit ihrer staatsbürgerlichen Ordnungspolitik die Entwicklung so vorantreibt, dass die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse sprengen können. Dass eben diese Produktionsverhältnisse dabei zementiert werden, ist die traurige historische Pointe der Arbeiterbewegung.
Dies alles ist aber keine Frage von politischem Voluntarismus, der sich für (Luxemburg) oder gegen (Kautsky) die Revolution ausspricht, auch nicht von programmatischen Entscheidungen von Parteifraktionen. Es ist vielmehr eine Frage der Stellung des Subjekts der vorgeblichen oder angestrebten antibürgerlichen Umwälzung, des Proletariats. Und da kommt mit der Subjektivität eine weitere innere Schranke ins Spiel. Das Subjekt ist die Form gesellschaftlichen öffentlichen Handelns in der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Subjekt wird, wer sich in die bürgerliche Gesellschaft hinein emanzipiert, und zwar unter Aufgabe individueller Eigenschaften, aber unter Formulierung eigener Unternehmung. Aufgabe individueller Eigenschaften bedeutet, dass die abstrakte Form des Handelns angenommen wird. Die erscheint als das Verfolgen von Interessen, die nichts anderes sind als verallgemeinerte Unternehmungen. Unternehmungen und Interessen haben aber nichts mit der Verwirklichung individueller Anlagen und Wünsche zu tun. Diese können nur in der Abspaltung ausgelebt werden, also nicht öffentlich, wenn auch in einem Bereich gesellschaftlich notwendiger Tätigkeiten.
Subjektivität und mit ihr die Abspaltung sind nun eine innere Schranke der bürgerlichen Gesellschaft, die ebenso wie die Wertverwertung einen inneren unauflösbaren Widerspruch darstellt, an dem nichts zu finden ist, das die Gesellschaft des Modernen Ensembles (kapitalistische Produktionsweise, geschlechtliche Differenz, die sich in den Tätigkeiten in der Abspaltung manifestiert, Subjektivität, die durch Emanzipation zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft wird, Nationalstaat als höchste Form der Subjektivität) zu überschreiten im Stande wäre. Wenn der Wert seine angeblich unschuldige Seite im Gebrauchswert hätte, der es zum Durchbruch zu verhelfen gelte, um der Warenproduktion zu entgehen, so wird oft auch die rekreative Tätigkeit in der Abspaltung zum Feld, auf dem die Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise überwunden werden kann, indem sie zum Vorbild für nicht profitorientiertes Handeln gemodelt wird.
Beides ist falsch: Wenn der Gebrauchswert als Phänomen der kapitalistischen Produktionsweise und nur an der Ware auftaucht, dann als Garantie dafür, dass der Gebrauch, der von ihr gemacht werden kann, erst Produktion als Ware (also nicht für Bedürfnisse und auf Auftrag eines distinkten Konsumenten, sondern für einen anonymen Markt) sowie Erwerb auf diesem Markt voraussetzt. Erst dann geht sie in den Gebrauch über, wobei dieser nicht unbedingt an die materiellen Eigenschaften des Produkts gebunden ist. Zum Gebrauch einer Ware kann durchaus auch deren Vernichtung zählen, wenn auf dem Markt kein Austausch von Besitzverhältnissen stattgefunden hat; aber auch, wenn dieser Austausch von Besitzverhältnissen gegeben war – man denke etwa an die Stilllegung von Betrieben nach Übernahmen oder den Kauf von Immobilien ohne jede Absicht, diese einem Bezug zuzuführen. Soviel zu der Definition von Gebrauchswert als nützliche Eigenschaft; daran lässt sich im Übrigen die argumentative und theoretische Schwäche von Losungen wie „Wohnen ist ein Menschenrecht“ denunzieren.
Genauso ist es um die gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten in der Abspaltung bestellt. Ihr allgemeines Merkmal ist, dass sie gar nicht oder nur schlecht bezahlt werden, dass die Rekompensation dafür dann Liebe oder Anerkennung ist. Damit verbunden wird – jenseits aller narzisstischen Verletzungen – die Vorstellung, dass Tätigkeit in der Abspaltung, gepaart mit unbezahltem Engagement, ein Vorbild für gesellschaftliches solidarisches Handeln sein könne, bloß weil sie nicht im Warenproduktionsbereich ausgeübt wird. Dass dabei dieselben Ausbeutungsverhältnisse strukturell zum Tragen kommen, wird zwar thematisiert, aber bloß im Rahmen bürgerlicher Existenz: als Emanzipation der Frauen mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, was die Tätigkeiten in der Abspaltung wieder gesellschaftlich zum Verschwinden bringt, oder auch als Reform und Reparatur von Pflege- und Bildungsarbeit, was diese Tätigkeiten zwar teilweise in das Licht der Öffentlichkeit rückt, sie aber nicht als vollwertige Arbeit im Sinne der Warenproduktion anerkennt. Man beachte beispielsweise den schlechten Ruf von Lehrern, die mit der gesellschaftlichen Abwertung des Images von Schulprofessoren mehrheitlich zu Lehrerinnen geworden sind: Sie haben nichts zu tun, üben bloß Halbtagsjobs mit drei Monaten Urlaub aus, mit Kindern arbeiten ist doch ein Vergnügen, das macht man ja gerne oder muss es gerne machen, und was da mehr. Bildung und Pflege sind eben keine Dienstleistungen, die als Unternehmung durchgehen und daher als Warenproduktion gelten können, sie sind schlicht Infrastruktur, ob Pflege und Erziehung nun institutionell oder familiär vollzogen werden. Und oft ist deren Auslagerung mit gesellschaftlicher Ächtung und halblegalen Verhältnissen verbunden, was am apologetischen Gerede von „Sexarbeit“ deutlich wird, das Menschenhandel und direkte persönliche Ausbeutung als „Arbeit“ im linken Diskurs adeln will.
Die subjektiven Anstrengungen, bürgerliche Herrschafts- und kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse zu überwinden, haben selbst dort, wo sie in großem Rahmen und mit militantem Aufwand betrieben wurden, zu nichts anderem geführt als zum Nationalstaat. Oder anders gesagt: Die Etablierung staatsbürgerlicher, nationalstaatlicher, politischer Ordnung hat sich von Anfang an einen Rahmen gegeben, der widersprüchlicher nicht sein kann. Einerseits wird mit der bürgerlichen Machtergreifung gegen die fürstlichen anciens régimes ein neues allgemeingültiges Rechtsverhältnis durchgesetzt, dass hinfort für alle Bewohner und Bewohnerinnen dieser Welt gelten soll. Andererseits werden mit dieser Machtergreifung all jene, die daran nicht beteiligt waren, in den Status ursprünglicher, primordialer Rechtlosigkeit versetzt. Die alten Rechte, die an die fürstliche Herrschaft gebunden waren, gelten als abgeschafft, sind außer Obligo, können nicht mehr in Anspruch genommen werden. Wer sich nun an dieser neuen gesellschaftlichen Ordnung beteiligen will, muss dem Beispiel der revolutionären Gründerväter dieser Ordnung folgen; weißen erwachsenen Männern, die sich gegen die Fürsten emanzipiert haben.
Sie haben den Weg vorgegeben. Sie haben die Macht an sich gerissen, mit militärischen und politischen Mitteln, ein Gesetz für die ganze Menschheit erlassen, die alte Ständeordnung über den Haufen geworfen und die Menschheit als Nation organisiert. Gleichzeitig haben sie sich zu Herren der Menschheit aufgeschwungen, aber ihre Herrschaft als Herrschaft der Leute über sich selbst maskiert. Hinfort sollte gelten, dass Leute nicht mehr andere beherrschen, sondern nur noch sich selbst und ihr Metier. Wer aber an dieser neuen Ordnung teilhaben will, muss erst den Nachweis dieser Beherrschung seiner selbst und seines Metiers erbringen und die Anwendung des neuen Gesetzes für sich erringen; muss also dieselbe Emanzipation durchmachen, wie sie seinerseits die revolutionären Gründerväter durchgemacht haben, allerdings nicht mehr gegen die Fürsten der anciens régimes, sondern gegen die aktuell Herrschenden.
Hier wird der innere Widerspruch der neuen Gesellschaft manifest. Während einerseits die revolutionären Gründerväter für die gesamte Menschheit zu sprechen behaupten, schließen sie gleichzeitig große Teile der Leute von der neuen Ordnung aus. Während sie einerseits die alten Stände abschaffen und den dritten Stand zur allgemeinen Menschheit als Nation erklären, entstehen an Stelle der Stände Klassenordnungen, die die Bindung an Eigentumsformen, ganz wie in der alten Herrschaft, behalten, aber gleichzeitig Eigentum als abstrakte Verfügungsgewalt definieren – bis hin zum Eigentum an der eigenen Arbeitskraft, die als letztes Residuum von Eigentum den Leuten verbleibt. Und während die Unversehrtheit des Eigentums als Menschenrecht deklariert wird, wird das Eigentum durch Gesellschaftsformen und Unternehmensorganisationen in einer Art und Weise fragmentiert, die vordem undenkbar war. Und neben die Spaltung der neuen Gesellschaft in Klassen tritt die Schaffung von Bevölkerungsschichten, im Nationalstaat wie auch weltweit, die sich den neuen Verhältnissen völlig rechtlos gegenübersehen.
Das sind Frauen, Kinder, Proletarier, Völker aus Ländern, die nicht die bürgerliche Ordnung angenommen haben. Sie alle stehen unter dem Generalverdacht, nicht vernünftig genug für die neue aufgeklärte Ordnung zu sein. So werden Frauen als triebhaft und emotional, jedenfalls nicht aufgeklärt, betrachtet, Kinder als unentwickelte Menschen, denen ein eigenes zeitliches Existenzstadium zugebilligt werden muss, indem sie erst zu staatsbürgerlichen Subjekten erzogen werden (sofern sie männlichen Geschlechts sind, ansonsten werden sie auf ihre Rolle in der Abspaltung vorbereitet, wo sie zum Wohlbefinden der Männer beizutragen haben), Völkern und Leuten jenseits von Westeuropa und dem revolutionären Teil Nordamerikas wird Faulheit, Dummheit und Unterentwicklung zugeschrieben; sie müssen ebenfalls missioniert und erzogen werden.
Um dieser Rechtlosigkeit zu entgehen oder um sie zu verinnerlichen, anzunehmen und zu ertragen, müssen sie alle sich emanzipieren, allerdings ohne den Startvorteil des Kampfs gegen die fürstliche Gesellschaft, gegen die religiöse Formation. Ihr Ziel ist nur, wie die Karotte, die dem Esel vorgehalten wird, was schon längst da ist und für alle Menschen gelten soll. Dabei wird ihre ursprüngliche Rechtlosigkeit zum Rucksack, den sie als nun emanzipierte Subjekte mitschleppen müssen: die schon angesprochene Doppelbelastung von Frauen ebenso wie die künstliche Unterentwicklung mit ökonomischer, militärischer und politischer Gewalt, in der die Staaten des Trikont gehalten werden und die mit dem historistischen Gerede von verzögerter oder ungleichzeitiger Entwicklung maskiert wird, das sich hinter dem Beklagen verbirgt, dass diese Staaten doch reich und mit Ressourcen gesegnet seien, aber leider von korrupten Machthabern ausgebeutet würden (und damit sind nicht die imperialistischen Mächte gemeint und die multinationalen Konzernregimes).
Für Kinder gilt, dass ihre Emanzipation so stattfindet, dass die Phase der Kindheit nach und nach verschwindet und sie, noch bevor sie ihre Zurichtung als staatsbürgerliches Subjekt durchlaufen haben, als Konsument und Marktteilnehmer die Bühne betreten müssen. Dabei unterscheiden sich die Waren, die ihnen angeboten werden, von denen für Erwachsene nur in ihrer Größe. Die Kindheit ist vorbei, was man auch an Spielsachen, Literatur und Musik beobachten kann, wobei der Verlust an Kindheit mit einer Infantilisierung der Erwachsenen einhergeht; wenn man mit Infantilisierung eine Gleichschaltung des Konsumverhaltens auf niedrigem kulturellem Niveau meint. Aber immerhin war die Zeit der Propagierung von Kindheit lang genug, um Freud zu erlauben, sie als die prägende Phase in der Entwicklung – nicht nur der jungen Heranwachsenden, sondern der Menschheit von Anbeginn an – zu markieren und damit einen ideologischen Vorschub für das Selbstverständnis des Modernen Ensembles zu leisten.
Die Karotte der Emanzipation, von der ich oben gesprochen habe, ist gewürzt mit staatsbürgerlichem Pathos, aber auch mit dem Geschmack der Gesellschaftsveränderung, was ja auch ihr allererster Inhalt war. Darüber wird oft vergessen, dass dieser ihr erster Inhalt nicht sistiert wurde. Im Gegenteil: Bis in die Terminologie linker Gesellschaftskritik hinein wird das Wort Emanzipation positiv besetzt und gesellschaftsveränderte Ansprüche werden also emanzipatorisch bezeichnet. Arbeiter- und Frauenbewegung haben durch ihre, oft auch militanten, Kämpfe diese Ziele staatsbürgerlicher Emanzipation und den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft ebenso erreicht wie die antikolonialen Kämpfe antiimperialistischer Bewegungen und Armeen. Begleitet wurde dies oft durch Illusionen in einen sozialistischen Charakter dieser Kämpfe und ihrer Ziele, wie sie sich in Strömungen der Linken bis ins letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts ausdrückten (zum Beispiel die Redaktionen von „Terzo Mondo“ in Italien oder „Autonomie Neue Folge“ in Deutschland).
Hier möchte ich noch einmal auf die große Rosa Luxemburg zurückkommen. Wenn sie auch an der Subjektivität einer revolutionären Arbeiterklasse festhielt, so muss doch ein Anspruch ihrer Politik noch immer gebührend beachtet werden, nämlich die Alternative, die sie der Linken in aller Dringlichkeit aufgemacht hat: Sozialismus oder Barbarei. Zweierlei ist an diesem Ausspruch bemerkenswert. Zum einen betont sie, wie ich schon oben angemerkt habe, dass die revolutionäre Aktion unabwendbar sein muss und nicht durch ein Warten auf den Zusammenbruch auf Grund innerer Widersprüche des Kapitalismus, an denen er zu Grunde gehen muss, ersetzt werden kann, auch nicht dadurch, dass man sich auf den Gang der Geschichte verlässt, der unausweichlich zum Sozialismus führen muss, wie noch vor nicht allzu langer Zeit (historisch gesehen, nicht biographisch) die Staatsführung der verwichenen DDR es behauptet hat.
Zum anderen lässt diese Alternative nichts anderes zu als Barbarei oder die Überwindung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse. Und da erhebt sich mit aller Vehemenz die Frage nicht nur danach, was zu tun wäre, um diese Alternative im Sinne von Sozialismus, also nicht kapitalistischer, nicht bürgerlicher Gesellschaft zu entscheiden, sondern auch, wer das tun solle. Zu Luxemburgs Lebzeiten war diese Frage schnell beantwortet: Es wäre das (internationale) Proletariat Träger dieser Umwälzung. Allerdings waren zwei Dinge dabei diesem revolutionären Umbruch im Weg. Zum einen zeigte sich das Proletariat in seiner politischen und organisatorischen Ausrichtung gespalten, was zur Folge hatte, dass die überwiegende Mehrheit der organisierten Arbeiterschaft den revolutionären Weg politischer Machtergreifung nicht einzuschlagen gewillt war. Zum anderen betrachteten alle Fraktionen, reformistische und revolutionäre, marxistische und anarchistische, gewerkschaftliche und parteiliche, als Proletariat nur die Lohnarbeiterschaft, sei sie nun in industriellen oder agrarischen Betrieben tätig.
Das Proletariat also, das die Arbeiterbewegungen organisierten, war nicht das Proletariat, von dem Marx geschrieben hatte. Er sah im Proletariat weniger eine empirische Gruppe von Menschen und sein Klassenbegriff bezog sich auf gesellschaftliche Verhältnisse, nicht auf materielle. Jedenfalls war sein Proletariat nicht unbedingt daran gebunden, dass es in Brot und Lohn stand. Vielmehr genügte ihm die Möglichkeit, einst (oder vielleicht nie im Leben) in Lohn und Brot zu stehen, um das Klassenverhältnis Proletariat zu erfüllen. Im historischen Licht dieser Entwicklung erscheint es nur logisch, wenn heute viele Linke in jenen, die aus dem Klassenverhältnis „Proletariat = produktive Arbeiterschaft“ gefallen sind, Träger der Umwälzung sehen. Andere wiederum sehen in jenen, die voluntaristisch und subjektiv dieses Klassenverhältnis negieren und sich in Prekariat umbenennen, diejenigen, an die sich gar keine Klassenpolitik mehr richten muss, weil die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung nur noch hohles Kommando ist, dem einfach nur nicht gehorcht zu werden braucht, um dem Kommunismus der Dinge (wie es Negri nennt) zum Durchbruch zu verhelfen.
Diese Ungehorsamen verlängern aber bloß das Klassenkampfparadigma, das die Existenz von gesellschaftlichen Klassen als Binnenverhältnis kapitalistischer Produktionsweise und bürgerlicher Organisationsweise nur aufrecht erhält und nicht wirklich angreift. Hier sehe ich also keinerlei Perspektive außer der, dass sich das Konkurrenzverhältnis von Kapital und Arbeit perpetuiert. Dafür mag als Anschauungsmaterial dienen, dass sich die Geschichte des Klassenkampfs eines so verstandenen Proletariats nur aus Niederlagen im Kampf um politische Machteroberung und aus marginalen Einkommensverbesserungen, die als Errungenschaften betrachtet werden, zusammensetzt. Letztlich bedeutet das, dass das Verhältnis von Kapital und Arbeit als Konkurrenzverhältnis sich in nichts auflöst, wenn auch das Arbeitsvermögen und das soziale Wissen, zu Markt getragen, auch schon als Kapital erscheinen.
Bleiben also die, die aus dem Produktionsprozess ausgestoßen und überflüssig gemacht wurden. Hier muss zunächst einmal festgehalten werden, dass dieser Ausschluss aus der Wertverwertung, aus Produktion von Mehrprodukt und Ausbeutung, keineswegs ein Ergebnis des Klassenantagonismus ist; nicht in dem Sinn, dass Leute (oder Bevölkerungen von halben Kontinenten) aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen werden, weil sie sich nicht rentieren. Das Kapital verwertet gerade so viel Arbeit, wie es braucht; das heißt, es schließt nicht willkürlich und aus Profitgründen Menschen aus, wie es Vulgärmarxisten gern behaupten, die dem Kapitalismus fehlgeleitete moralische beziehungsweise unmoralische Beweggründe andichten. Nein, es schließt genauso viel Menschen ein, wie es nötig und sinnvoll ist. Dazu kommt aber, dass das Herausfallen aus dem Klassenverhältnis, die Deklassierung, nicht nur die Beschäftigten in Produktion und Dienstleistung bedroht, sondern auch die Eigentümer der Dienstleistungs- und Produktionsbetriebe.
Das heißt, dass in der finalen Krise des Modernen Ensembles, der wir Zeugen werden, sich Klassenantagonismen in zwei Richtungen hin auflösen: Zum einen entsteht in den immer weiter zusammenschnurrenden Bastionen des Modernen Ensembles ein sozialer Konsens, teils systemisch erzwungen, teils als ideologische Vorleistung, um in der Inklusion sich sicher fühlen zu können, ein Konsens, der sich auf so genannte westliche Werte bezieht, die über den Klassen- und anderen subjektiven Interessen zu stehen haben und quasi als Eintrittsbillet in die bürgerliche Veranstaltung gelten. Hier macht also der alte Klassenantagonismus, der selbstverständlich weiterbesteht, aber sich in einer neuen subjektiven Form verallgemeinerter und atomisierter Konkurrenz ausdrückt, einer Ausrichtung der Konkurrenz Platz, die sich nun auf die Überflüssigen richtet. Nicht mehr der Wunsch nach Aufstieg innerhalb der Klassengesellschaft wird zur Triebkraft subjektiver Tätigkeit, sondern das Vermeiden des Ausschlusses.
Die Überflüssigen wiederum drängen entweder in die metropolitanen abgeschotteten Inseln, um dort irgendeine Form meistens illegaler Inklusion zu erfahren, also im Prinzip keine; aber sie haben die Hoffnung nicht aufgegeben, mit ihrer Arbeitswilligkeit sich einen Platz in der Metropole zu erwerben, so wie seinerzeit die Germanen nichts als Römer werden wollten (es mit ihren Wünschen aber möglicherweise leichter hatten). Die große Mehrzahl aber richtet sich im subimperialistische Trikont, das heißt großteils in den Slums der Riesenstädte oder in prekärer, wiederum teils illegaler agrarischer Produktion, in urbaner oder agrarischer Subsistenz ein.
Auffällig ist dabei eine gesellschaftliche Organisationsform, die der bürgerlichen Verfolgung verallgemeinerter, aber abstrakter Interessen enträt, stattdessen konkrete Vorhaben in den Mittelpunkt rückt und die sich daher auch personal ausdrückt in Familien, Clans, Banden, Missionen und was da mehr. Für das abstrakte bürgerliche Verständnis kann es sich dabei nur um Korruption, Nepotismus, Mafia, kurz um Kriminalität handeln. Unverständlich, dass man zur Erforschung eines Flusslaufs etwa nicht nur die staatliche Bewilligung braucht, sondern vor Ort noch einmal beispielsweise die Zustimmung eines Stammesrats. Was da das staatsbürgerliche imperialistische Subjekt als Erpressung wahrnimmt, ist nichts als eine konkrete soziale Struktur, die dort entsteht, wo der Ausschluss aus der Wertverwertung herrscht. Möglicherweise, dass hier Vorbilder entstehen, die entwickelt werden müssen, ohne dass schiere Armut und Exklusion ihr Antrieb sind. „Nicht der Not gehorchend, sondern dem eignen Drange“, um den Dichter zu paraphrasieren.
Ich sehe hier bei den Überflüssigen, also zerstörten oder nicht zu Stande gekommenen Klassenverhältnissen eine Parallele zur Konstitutionsgeschichte bürgerlicher, verallgemeinerter subjektiver Herrschaft. So wie sich die Stände in der Nation auflösten, so werden sich wohl die Klassen in etwas Neues auflösen. Damit ist die Parallele aber auch schon wieder zu Ende. Denn die damaligen Revolutionäre gegen die Fürsten hatten uns etwas voraus: Sie verfügten über eine theoretische Grundlage, die über mehr als ein Jahrhundert von Philosophen und Gelehrtenkorrespondenz entwickelt worden war, sie verfügten über etwas, das sich Aufklärung nannte. Sie verfügten über eine Theorie des Gesellschaftsvertrags, sie verfügten über eine Praxis von Öffentlichkeit, die in Kaffeehäusern, Clubs und Salons, aber auch in Akademien der Wissenschaften entstanden war. Anders gesagt: Sie waren vorbereitet und wussten, was sie taten.
Wir stehen nicht dort, wo do bürgerlichen Revolutionäre vor ihrer politischen Machtergreifung standen. Wir stehen dort, wo Philosophie und Wissenschaft sich erst daran machten, Undenkbares zu denken. Wir sind noch nicht dabei, Ähnliches zu tun, paradoxe Formulierungen zu entwerfen, die der bürgerlichen Vernunft Paroli bieten können. Es gehörte (und gehört bis heute) zu den ideologischen Versprechen bürgerlicher Herrschaft, dass mit dem Einzug der Vernunft und des Freihandels ein System allgemeiner Bedürfnisbefriedigung, allgemeinen Wohlstands, allgemeiner Freiheit sich etablieren würde, das in Hinkunft Kriege unnötig machen würde (abgesehen davon, dass mit dem Ende der Adelsherrschaft auch das Einkommen ihrer nachgeborenen, nicht erbberechtigten Söhne, also die Versorgung durch Regimenter oder Schiffe und die entsprechenden Kriegsbeuten, nicht mehr gegeben sei). Kriegerische Auseinandersetzungen wurden entgegen diesem Versprechen dann damit gerechtfertigt, dass die Vernunft – immer bedroht – verteidigt werden müsse, dass man unterentwickelte Gesellschaften wie etwa die chinesische oder japanische zu ihrem Glück des Freihandels zwingen müsse. Können wir nun die Formel aufstellen, dass gewaltlose Gesellschaften unvernünftig sein müssen? Wir können. Und wir müssen.
Die bürgerlichen Revolutionäre konnten sich also auf einen Korpus von Forderungen und Formeln stützen, der sich in der Verallgemeinerung von Rechten ausdrückte, die sich als Menschenrechte gegen die Adels- und Fürstenherrschaft richteten. Die theoretische Schwäche heutiger „Revolutionäre“ beruht nicht zuletzt darauf, dass sie das Paradigma der Menschenrechte nicht überwunden haben, ebenso wenig wie das oben angesprochene Paradigma der Emanzipation. Die Vorstellungen von Sozialismus verbleiben also im Horizont bürgerlicher Machergreifung und Herrschaft, verbleiben in einer abstrakten Verrechtlichung der gesellschaftlichen Organisierung von Produktion und Reproduktion.
Zum Korpus von revolutionären Forderungen und Formeln gehört auch das Versprechen sich andauernd optimierenden Fortschritts. Das war paradoxerweise (und das Moderne Ensemble beruht auf einer Menge solcher legitimatorischen Paradoxien) ein Versprechen, dass alles immer besser würde, das Ziel der Geschichte aber ohnehin schon erreicht sei. Wir können uns das bildlich vorstellen als ein Anhäufen von Aporien und Verwerfungen am Rand, an der Grenze des Modernen Ensembles, das immer höher anwachsen muss, weil ein Überschreiten dieser Grenze verboten ist. Dies wäre ebenso unnatürlich wie unvernünftig. Die natürliche Bestimmung des Menschen, die von Anfang an in ihm angelegt war, nämlich als konkurrentes, produzierendes, sesshaftes, familiäres Wesen sein Leben zu fristen, ist im Modernen Ensemble endgültig verwirklicht. Diese Entwicklung vom historischen Fortschritt zum Ende der Geschichte hat durch die Vernunft der gesellschaftlichen Subjekte, für sich selbst zu sorgen, die in der Natur angelegte Evolution verwirklicht, die Menschheitsgeschichte zur Naturgeschichte gemacht. Es gelten nun die Gesetze der andauernden Optimierung, der Anpassung an die Umwelt, die durch vernünftiges Handeln der Natur des Menschen Genüge tun.
Und so ist auch seine Gesellschaftsordnung unangreifbar. Im Gegenteil, sie setzt sich immer mehr durch, wie absurde Ausmaße das auch annehmen mag. Nehmen wir etwa das Beispiel von Menschenrechten für Primaten. Offenbar entspringen solche Initiativen dem Verdacht oder der Einsicht, dass unsere natürlich angelegte und vernünftig vollzogene Gesellschaftsordnung immer zu Ungunsten anderer Lebewesen ausgeht. Allerdings finden wir bei den Maßnahmen dagegen genau die Verwerfungen an der Grenze der Gesellschaft vor, die ich oben angesprochen habe. Anstatt über die gesellschaftlichen Verhältnisse hinauszudenken und dieses Denken der herrschenden Vernunft paradox entgegenzusetzen, wird mit denselben Mitteln, die das Unheil angerichtet haben, versucht, dieses Unheil zu reparieren; als würden Menschenrechte für Gorillas sie vor der Vernichtung bewahren. Dass das nicht funktioniert, hat man schon an Menschen selbst gesehen.
Alles löst sich in Vernunft auf. Artensterben, Hunger, Verdummung, Klimawandel – nichts, dem nicht eine vernünftige Maßnahme beikommen könnte. Und der Stau an vernünftigen Maßnahmen nimmt unentwegt zu. Ihre Propagierung wird selbst zu einem einträglichen Geschäftsfeld, das hinter dem Rücken der Produzenten, in dem Fall von NGO und allem möglichen Interessensvertretungen, sich durchsetzt. Diese Reparaturvernunft führt also durch ihre Anhäufung und Auftürmung von propagierten Maßnahmen zu nichts anderem, als das Vertrauen in sie zu propagieren. Wissen und Mittel sind vorhanden, es bräuchte nur den guten Willen aller Beteiligten, um das Paradies auf Erden aus seiner virtuellen Versprechung Wirklichkeit werden zu lassen. Warum es nicht funktioniert? Weil die Vernunft nicht richtig angewandt wird, weil kurzsichtige Subjektivität berücksichtigt werden muss, die auch vernünftige Argumente für sich ins Treffen führen kann, weil der Ausgleich der Interessen den sozialen Frieden bewahren muss, was im schlimmsten Fall zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen muss, zu so genannten Friedensmissionen, um unvernünftige Tyrannen in die Schranken zu weisen.
All diese Vernunft ist aber in der Geschichte gebunden. Naturgesetzlich entwickelt sich diese Geschichte und wird überall vorgefunden: in der Geologie, in der Sprachwissenschaft, im Klassifizierungssystem der Naturwissenschaft, ja sogar in der Geschichtsschreibung selbst. Die Chronologie ist es nun, die die historische Erzählung vom Fortschritt stützt, nicht mehr die Tradierung wesentlicher Begebenheiten, deren Erinnerung zur Stützung der religiösen Verfasstheit dient, wie etwa Schöpfungsberichte oder Ahnenreihen, die beide einer historischen Quellenkunde nicht bedürfen und ihr auch nicht standhalten müssen. Die Chronologie aber mit unhintergehbarer linearer Zeit erlaubt nicht das Denken in Brüchen und trägt so zur ideologischen Festigung mit wissenschaftlicher, fetischverfasster Argumentation bei. Und siehe da, dieses Denkmodell wird sogar dort übernommen, wo nachbürgerliche, nicht kapitalistische Gesellschaften erträumt werden. Die gerichtete Entwicklung der Naturgeschichte, in die die Menschheitsgeschichte bewusstlos eingebettet ist, erlaubt uns nur, das zu lernen, das wir ohnehin wissen: dass alles immer so war und immer mehr zu sich kommt. Die Dinosaurier „herrschten“ im Erdmittelalter und die Leute der Steinzeit verfügten über eine „Feuersteinindustrie“.
Dass alles immer so war und die Entwicklung der Menschheit und der Geschichte bloß eine Modifikation und eine Verwirklichung des Angelegten ist, hat auch Einzug in die Vorstellungen der Linken gefunden, die mit Marx gläubig nachbeten, dass die Voraussetzungen für den Sozialismus schon im Kapitalismus vorzufinden seien und die gesellschaftlichen Verhältnisse kraft ihrer dynamischen unaufhaltsamen Entwicklung umstürzen, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse sprengen. Wenn wir aber bürgerliche Geschichtsteleologie beiseitelassen und uns mit der Vergangenheit beschäftigen, bekommt dieses Bild einer kontinuierlichen Entwicklung zum Fortschritt sehr schnell Sprünge. Zwischen den steinzeitlichen Populationen der so genannten Wildbeuter (Jäger und Sammler stimmt nicht, eher würde ich für Sucher und Finder plädieren) mit ihren magischen Bezügen zur Umwelt und den Betreibern von sesshaftem Ackerbau, Viehzucht und Großherdenhaltung (Großherdenhaltung trifft den Kern der Sache eher als Nomadismus) klafft ein riesiger Abgrund, der sich zum Teil noch in der mythologischen Eingemeindung der alten magischen Naturgeister in die neuen göttlichen Welten finden und nachweisen lässt.
Ein ebensolcher Abgrund klafft zwischen religiös verfassten Gesellschaften der agrarischen Produktionsweise mit Identitäten von Reich, Herrschaft, Land, Fürsten und den zugehörigen Gottheiten und der Produktion von abstraktem Reichtum der wissenschaftlich-kritisch verfassten Gesellschaft unserer Zeit, die all das, das es angeblich immer schon gegeben hat, erst in den letzten Jahrhunderten erfunden hat: Geld, Kunst, Freizeit, Arbeit, Politik, Interessen und so fort. Was wir aus der Geschichte lernen, ist, dass alles immer so war und wir uns asymptotisch dem Paradies auf Erden annähern, wenn wir Natur und Vernunft nur walten lassen. Was wir hingegen aus der Vergangenheit lernen, ist, dass unsere jetzigen Verhältnisse eine kurzlebige Episode in der Menschheitsgeschichte sind (Produktion von Reichtum als ökonomische Kennzahlen, die über die materiale Verfügung über Lebens-, Genuss- und Glücksmittel nichts aussagen, deren Unerreichbarkeit eher verschweigen), die durch ihre Entfernung vom Konkreten und der Reduplikation alles Lebens in abstrakte Verhältnisse ein Paradies auf Erden verhindern.
Es gilt also, zu den Brüchen zurückzufinden und keine prästabilisierte Harmonie von Markt und unsichtbarer Hand und Verfolgung subjektiver Interessen zu beschwören. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie mit Welterklärungen bei Epochenbrüchen tabula rasa gemacht wurde. Womit ich zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurückkomme: Wir müssen zu paradoxen Formeln finden, die mit der Sicherheit der Menschenrechte aufräumen und den schwankenden Boden der Vernunftlosigkeit betreten. Wir müssen es auch aufgeben, uns auf die Natur zu verlassen. Vielmehr müssen wir sie sich selbst überlassen, anstatt sie in den ausgesuchten Bereichen der Nationalparks und des Welterbes zu schützen. Dafür müssen wir uns überlegen, dass wir uns selbst nichts Gutes tun, wenn wir jedes für Menschen noch so lebensfeindliche Habitat besiedeln wollen. Wo wir uns aber niederlassen, müssen wir dies mit Verantwortung gegenüber dem tun, das wir jetzt noch als Natur bezeichnen – denn diese wird dann zutiefst menschlich sein. Und auch das soll Ausgangspunkt paradoxer Formulierungen sein: dass wir uns nicht überall herumtreiben müssen.
Ich habe oben die dramatische Alternative Luxemburgs angesprochen: Sozialismus oder Barbarei. Im Folgenden und auch davor habe ich eher auf Fehler und Unterlassungen (der Linken, was immer auch diese Bezeichnung noch bedeuten mag) hingewiesen, die – wenn auch nicht gewollt – der Barbarei Tür und Tor öffnen und die sozialistische Perspektive zum Schemen verkommen lassen könnten. Ich möchte dies aber nicht in einem Antagonismus von Optimismus und Pessimismus verorten; beide sind keineswegs Kategorien, die in der politischen Debatte, richtiger: in der wertabspaltungskritischen Debatte, mehr auszusagen vermögen als persönliche Neigungen, Befürchtungen und mentale Dispositionen. Eher geht es darum, die gegebene gesellschaftliche Entwicklung richtig einzuschätzen und daraus valide Schlüsse zu ziehen.
Dass wir zurzeit keine offensive Verfolgung sozialistischer, geschweige denn kommunistischer Ziele erleben und beobachten können, eher eine historistische Verklärung der Arbeiterbewegung des neunzehnten in seinem letzten und des zwanzigsten Jahrhunderts in seinem ersten Drittel, das Exhumieren und Rehabilitieren längst vergessener Opfer und Kämpferinnen inclusive, liegt auf der Hand. Linke Verlagsprogramme und in der Tradition vergangener Auseinandersetzungen frisch gegründete linke Zeitungen (ich denke hier etwa an „tagebuch“, um in diesem Aufsatz noch einmal eine Publikation zu zitieren) sind voll von biografischen Aufarbeitungen dieser Art, die jedes Bezugs auf die heutige Lage völlig entraten.
Wie aber sieht es mit der Barbarei aus? Weiter oben habe ich von einem Durchsetzen der Vernunft gesprochen; ja, wir können sozusagen ihren Siegeszug beobachten, ihre Übernahme linker Diskurse und wie sie sich auch in den Feuilletons als linker Mainstream breitmacht. Ist diese Vernunft etwas, das die Barbarei wenigstens eine Zeitlang hintanhalten kann? Ich meine, dass nicht, um es mit Josef Švejk (in der deutschen Übersetzung) auszudrücken. Eher ist es so, dass diese Vernunft zur leeren Hülle wird, die gegen jede Evidenz aufrechterhalten wird, so wie Byzanz bis ins fünfzehnte gegen jede Evidenz die Antike aufrechterhielt. Sollen also die gesellschaftlichen Verhältnisse des Modernen Ensembles möglicherweise wie seinerzeit in Byzanz eingefroren werden, Barbarei und Sozialismus inclusive? Diese Perspektive ist nicht auszuschließen, notabene eine Kraft wie weiland die der Osmanen zurzeit fehlt.
Die wird wohl durch die inneren Widersprüche der kapitalistischen Veranstaltung ersetzt, unterliegt aber der permanenten Krisenbetreuung durch das Moderne Ensemble selbst, sowohl was temporäre Maßnahmen betrifft als auch ideologische Einschwörungen. Der Abwehrkampf (seiner Zeit gegen die Osmanen, heute gegen die Aporien und Paradoxien der gesellschaftlichen Organisation und ihrer Produktionsweise) wird wohl seine Zeit in Anspruch nehmen; eine Zeit, die auch wir nützen können, um unsere Formeln einer nicht bürgerlichen, nicht kapitalistischen sozialen Verhaltensweise auszuarbeiten und zu propagieren.